Weiterspielen – Ja oder Nein?

Der Fall Christian Ericsen

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“
Bertold Brecht

Unfälle passieren häufig im Sport. Mal sind sie schwerer, mal sind sie leichter. Wenn es sich um verhältnismäßig leichte Unfälle mit Verletzungen handelt, dann scheidet der Betroffene aus dem Wettkampf aus. Der Event geht weiter. Keinen interessiert das großartig.
Kommt es aber bei solchen Unfällen zu schweren lebensgefährlichen Verletzungen, dann stellt sich jedes Mal die Frage: Soll das Event abgebrochen oder weitergeführt werden.
Beispiele gibt es genug. Ich möchte ihnen nur einige wenige nennen. Ich erinnere mich noch an den schweren Unfall Niki Laudas in der Formel 1. Auch an den schweren Sturz des Ski-Rennläufers Matthias Mayer im Dezember 2015 kann ich mich noch erinnern. Während das Formel 1 Rennen abgebrochen wurde, wurde der Abfahrtslauf in Gröden einen Tag später durchgeführt.

Ein völlig anderes Ereignis geistert mir in diesem Zusammenhang immer noch durch den Kopf. 1972, olympische Spiele in München.
Die Terrorgruppe schwarzer September überfällt das olympische Dorf und nimmt die israelische Mannschaft in Geiselhaft. Bei einem Befreiungsversuch auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck werden alle Geiseln und fünf der acht Terroristen bei einem Schusswechsel getötet. Die Spiele werden unterbrochen. Einen Tag später spricht der Präsident des IOC, Avery Brundage, den Satz: „The games must go on.“ ( Avery Brundage/nach-der-Münchner-Geiselnahme ) Man will sich nicht erpressen lassen.

Der Fall Christian Ericsen

Fußball Europameisterschaft. Dänemark spielt gegen Finnland. Plötzlich bricht der Kapitän der Dänen ohne Einwirkung eines Gegners zusammen. Keiner weiß so richtig, was passiert ist. Dann kommt die Information, dass ein Herzstillstand vorliegt, Wiederbelebungsmaßnahmen werden durchgeführt. Die Rettungskette funktioniert. Ericsen wird in das Krankenhaus verbracht. Die Kamera zeigt sich in meinen Augen pietätvoll, geht auf die Totale. Die Dänen stellen sich um ihren Kameraden als Sichtschutz. Das Spiel ist unterbrochen.

Das ZDF

Der Sender schaltet zurück ins Studio. Die dortigen „Experten“, für mich eher B-Promis, diskutieren, wie es weiter gehen könnte. Die herrschende Meinung scheint zu sein, das Spiel abzubrechen und vielleich später nachzuholen. Es wird sogar spekuliert, ob die Dänen ihre Mannschaft aus dem Turnier zurückziehen.
Nichts genaues weiß man nicht. Also schaltet man in das normale Abendprogramm. Zeigt den „Bergdoktor“.

Die Bildzeitung kommentiert das so: “ Nach dem Eriksen-Kollaps kappte das ZDF seine Live-Übertragung, ließ Millionen am TV viel zu lange im Unklaren! Stattdessen sahen sie eine „Bergdoktor“-Serienepisode von 2010 – ausgerechnet mit Szenen einer Wiederbelebung und Sequenzen von der Intensivstation: zu einem Zeitpunkt, wo das Schicksal von Eriksen völlig ungewiss war.“
Nach Ansicht der Bild hätte man also weiter drauf halten sollen. Für ein Sensationsblatt, wie die Bild, ist das natürlich nachvollziehbar.

Ich fand das Verhalten des Senders völlig in Ordnung. Bei gravierenden Lageänderungen hätte das Programm doch jederzeit unterbrochen werden können. Aber anderthalb Stunden dem Gesabbel der Promis zuhören? Das wäre Hardcore gewesen.

Wie geht es weiter

Etwa zwei Stunden später wird das Spiel nach Absprache mit den Teams wieder angepfiffen und zu Ende gespielt. Die Leute im Studio zeigen Unverständnis, das könne man doch nicht machen, die stehen doch unter Schock. Später wird die Schuld für das vermeintliche Fehlverhalten sogar bei der UEFA gesucht, die hätten die Fortsetzung des Spieles verbieten müssen, die hätten doch eine Fürsorgepflicht. Usw., usw. Das ist für mich absoluter Quatsch.
Vor allem wird dabei vergessen, dass Ericsen selbst gesagt haben soll, man möge das Spiel zu Ende bringen.

Wie stehe ich dazu?

Zunächst möchte ich zu den sogenannten Experten sagen: Moralapostel steht euch nicht. Aus einem Studio, 800 km entfernt vom Ort des Geschehens entfernt, da sollte man sich mit Einschätzungen zurückhalten. Und wie es in der Psyche der Spieler aussieht, weiß von euch auch keiner. So oft kommt so etwas nicht vor, dass ihr das schon einmal selbst erlebt hättet.

Ich selbst hatte so ein Erlebnis in meiner Jugendzeit als Handballer. Bei einem Punktspiel stürzte einer meiner Kameraden so unglücklich, dass der Verdacht eines Schädelbasisbruches vorlag. Wir machten erste Hilfe, der Rettungsdienst kam, und dann ging das Spiel weiter. Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht, aber ein Spielabbruch? Vielleicht waren wir früher aber auch robuster als heute, nicht so weichgespült und rundgelutscht. Wer weiß das schon?

Wie hätte ich gehandelt?

Grundsätzlich gilt für mich: Wenn du vom Pferd fällst, dann steig gleich wieder auf. Sonst wirst du es nie wieder tun.
Übertragen auf unsere Situation heißt das: Wir setzen das Spiel fort.

Zwei Fragestellungen dazu

Ist das traumatische Erlebnis morgen schon vorbei? Ich glaube nicht. Und ob wir morgen dann wirklich besser spielen, darf allenthalben bezweifelt werden.

Zum zweiten stelle ich mir die Frage, was hätte der Spielabbruch Christian Ericsen genutzt. Nichts. Und wenn er im schlimmsten Fall verstorben wäre, glücklicherweise ist er das nicht, hätten wir es durch einen Spielabbruch verhindern können? Auch hier ein klares Nein.

Wenn man aber diese beiden Antworten mit nein beantwortet, gibt es dann überhaupt einen Grund das Spiel abzusagen oder zu verschieben? Auch hier ein klares Nein.
Darüberhinaus sollte man auch berücksichtigen, dass körperliche Belastung einen erheblichen Einfluss auf die Stressbewältigung hat. Die Situation holt uns dann später immer noch ein, aber eben schon mit einem gewissen Abstand.

Jetzt gibt es aber noch das Argument, das Spiel würde ja nicht unter regelgerechten Verhältnissen stattfinden. Okay, aber ist dass nicht irgendwie immer der Fall? Irgendwas ist immer.

Also, Arschbacken zusammen, und los gehts.

https://www.sportschau.de/fussball/uefaeuro2020/video-christian-eriksen-bricht-bei-em-spiel-zusammen-100.html

https://www.bild.de/sport/fussball/europameisterschaft/em-2021-christian-eriksen-so-blamierte-sich-das-zdf-76728828.bild.html

https://www.bpb.de/olympia-1972-geiselnahme-04-09-2012

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