„Was wir heute nicht sehen wollen, das wird uns später in den Ohren klingen.“
Justus Voigt (denkender Lebender und lebender Denker)
Am 29. Juni haben die letzten deutschen Soldaten Afghanistan verlassen. In etwa zur gleichen Zeit haben auch andere Nationen ihre Streitkräfte aus Afghanistan abgezogen. Nur sechs Wochen später ist das Land wieder in der Hand der Taliban. Alles was die internationele Gemeinschaft versucht hat, in den letzten zwanzig Jahren aufzubauen, ist innerhalb von sechs Wochen wieder dahin.
War das absehbar?
Genau diese Frage stellt sich jetzt. Dass die Taliban nicht eliminiert waren, das war vielen bekannt. Dass sie aber in sechs Wochen wieder das Kommando in Afghanistan übernehmen konnten, das hat einige überrascht.
In diesem Zusammenhang beklagte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, die fehlende Widerstandskraft der afghanischen Streitkräfte. Personell und Materiell seien sie den Taliban weit überlegen. Allerdings habe der Wille zur Verteidigung gefehlt. Ich frage mich in diesem Zusammenhang, was hätten sie den verteidigen sollen?
Die afghanische Gesellschaft
Ich hatte in einem früheren Beitrag schon einmal erwähnt, dass die afghanische Bevölkerung sich in Clanstrukturen bewegt. Dieser Clan wird von einem Ältesten geführt. Es gilt das Patriarchat. Selbst wenn bekannt ist, dass er sich verrennt, wird nicht widersprochen. Genau so schilderte mir das einmal ein Einheimischer.
Aus diesem Grund fehlt dort den meisten Menschen ein Gefühl für ein gemeinsames Staatswesen. Der Clan ist alles, der Staat ist nichts. Diese Menschen davon zu überzeugen, für einen Staat zu kämpfen, der sie letztendlich nur ausnehmen will, das ist schwierig.
Wer ist zur Armee gegangen
Ein Ziel der internationalen Gemeinschaft war, Afghanistan in die Lage zu versetzen, mit eigenen Kräften und Mitteln für die eigene Sicherheit zu sorgen. Dafür wurden Militär- und Polizeikräfte aufgestellt, ausgerüstet und ausgebildet. Bezahlt wurde das alles mit Geld der internationalen Gemeinschaft. Das galt auch für die Gehälter. Die Masse der Finanzmittel kamen aus den USA.
Afghanistan ist arm. Und so kam jeder in die Armee, der so sein Einkommen sichern konnte. Eine Art Sicherheitsüberprüfung fand zwar statt, war allerdings nur sehr oberflächlich. Mit Sicherheit waren unter den Rekrutierten auch Talibansympathisanten. Dazu kommt noch, dass die Soldaten mit Masse relativ ungebildet waren. Ein Großteil von diesen konnte weder lesen noch schreiben.
Die gebildeten Menschen fanden in der Regel Arbeit bei den internationalen Organisationen, einschließlich internationaler Militärkräfte. Sie konnten dort einfach mehr verdienen.
Was ist jetzt passiert?
Die Internationalen verabschieden sich so nach und nach. Die guten Verdienstmöglichkeiten verschwinden auch. Und der durch das internationale Militär aufgebaute Sicherheitsschirm verschwindet mit. Solange internationale Ausbildungskräfte bei der afghanischen Armee (ANA) waren, war noch ein gewisses Vertrauen in der Bevölkerung vorhanden. Wie es danach, war entzieht sich meiner Kenntnis.
Die Polizei galt bis auf wenige Ausnahmen schon immer als unfähig und korrupt.
Der Afghane reagiert pragmatisch und orientiert sich neu. Dass die Taliban wieder kommen würden, war den meisten klar. Schon in Gesprächen mit Ortsansässigen in 2008 wurde mir das bestätigt. Die meisten waren sich bewusst, dass die Taliban nach Abzug der internationalen Streitkräfte wieder kommen würden. Auch ich hatte nie Grund, daran zu zweifeln. Allein unsere politische Führung wollte davon nichts hören.
Es war also völlig klar, dass sich die Masse der Bevölkerung nicht gegen die neuen Herren auflehnen würden. Das gilt natürlich auch für die Sicherheitskräfte. Und besonders mutig waren die afghanischen Soldate auch nicht. Es kam häufig vor, dass bei gefährlicheren Operationen die afghanischen Einheiten plötzlich verschwunden waren.
Das Resultat
Die Internationalen sind weg. Die Taliban haben übernommen. Viele politische Würdenträger haben gar nicht versucht, Widerstand zu leisten. Sie haben das Feld kampflos überlassen. Das gilt auch für die Kräfte der ANA. Obwohl diese den Taliban personell und materiell haushoch überlegen gewesen sein müssen, haben sie das Feld kampflos überlassen. Selbst Waffen und Gerät wurde an die Taliban übergeben. So sind die Taliban zu einer hervorragenden Ausrüstung gekommen. Da kann die Bundeswehr nur neidisch werden.
Viele werden jetzt sagen, es hätte sich doch gelohnt für die Freiheit zu kämpfen. Dazu nur eines: Freiheit ist ein weiter Begriff. Und was für den Europäer Freiheit ist, muss für den Afghanen noch lange nicht gelten. Und merken wir nicht gerade in diesem Moment in Europa, wie sich das empfinden für Freiheit gravierend ändert?
Was wird kommen?
Was die Zukunft bringt, ist schwer zu sagen. Relativ sicher ist in meinen Augen, dass die Taliban ein fundamentales islamisches Regime aufbauen werden. Vielleicht nutzen sie den Iran als Vorbild. Das allgemein gültige Gesetzbuch wird der Koran werden. Die Scharia wird wieder eingeführt. Gender und Frauenrechte werden definitiv keine Rolle spielen.
Ideen, wie sie Gregor Gysi hervorgebracht hat, man möge den Taliban Hilfe anbieten, diese aber an Bedingungen knüpfen, wird dort eher auf Gelächter stoßen. Es zeigt sich wieder einmal, wie weltfremd links-grüne Politiker sind.
Interessant wird sein, wie sich China positioniert. Es soll schon Gespräche über eine wirtschaftlich Zusammenarbeit geben. Natürlich nach chinesischem Muster, das versteht sich.
Müssen wir mit mehr Terrorismus rechnen?
Ich glaube nicht. Natürlich haben die USA nach 9/11 Afghanistan als die Brutstätte des Terrorismus ausgemacht. Deshalb sind sie dort auch einmaschiert. Ziel war Bin Laden zur Rechenschaft zu ziehen. Allerdings wurde der dann in Pakistan eliminiert.
Nach meinen Kenntnissen befinden sich die Kaderschmieden für Al Qaida im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Dass die Taliban mit Al Qaida zusammenarbeiten halte ich für sicher. Trotzdem dürften die Interessen unterschiedlich sein. Es wäre mir neu, wenn die Taliban außenpolitische Ziele verfolgen würden.
https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-usa-kritik-101.html